Sterben für Berlin?


Am Abend des 11. August 1961, Freitag, fanden sich hochrangige Stasi-Offiziere bei ihrem Chef Erich Mielke zum Befehlsempfang ein. Hauptaufgabe sei, so Mielke,

"größte Wachsamkeit üben, höchste Einsatzbereitschaft herstellen und alle negativen Erscheinungen verhindern. Kein Feind darf aktiv werden, keine Zusammenballung darf zugelassen werden. [...] Alle vorbereitenden Arbeiten sind unter Wahrung der Konspiration und unter strengster Geheimhaltung durchzuführen. Die gesamte Aktion erhält die Bezeichnung 'Rose'."

In der darauffolgenden Nacht begann diese Aktion. SED-"Kampfgruppen der Arbeiterklasse", Volkspolizei und Einheiten der Nationalen Volksarmee riegelten die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin mit Stacheldraht ab. Wenig später wurde aus dem Stacheldrahtverhau die Mauer, die Teilung der Nation im wahrsten Sinne des Wortes zementiert.

Begonnen hatte alles am 10. November 1958, als Chruschtschow in einer Rede im Moskauer Sportpalast die Aufkündigung des Potsdamer Abkommens ankündigte. Er empfahl den Westmächten, ihre Beziehungen zur DDR selbst zu regeln und mit ihr ein Übereinkommen zu treffen, falls sie an irgendwelchen Berlin betreffenden Fragen interessiert seien. Die neue Berlinkrise war da, auch wenn Adenauer meinte, Chruschtschow sei wohl "etwas betrunken" gewesen. Er war es nicht. Aus Moskau warnte US-Botschafter Thompson:

"Chruschtschow hat es eilig und glaubt, daß die Zeit gegen ihn arbeitet, insbesondere was die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik betrifft. Ich glaube daher, daß sich die Westmächte auf eine entscheidende Auseinandersetzung ('major showdown') in den kommenden Monaten vorbereiten sollten."

Als erste bekamen die Briten weiche Knie, und das blieb so bis zum Ende der Krise 1963. Nur vier Tage nach Chruschtschows Rede entstand im Foreign Office in London ein Dokument, das zu den schlimmsten der gesamten Berlinkrise gehört. Darin wurden drei Alternativen genannt:

a) Rückzug aus Berlin,

b) Anwendung von Gewalt, das hieß Krieg,

c) Verbleib in Berlin, "wobei wir mit der DDR verhandeln und, falls dies notwendig sein sollte, sie auch anerkennen".

Die Alternativen a) und b) wurden sogleich abgelehnt, blieb also nur c). Außenminister Selwyn Lloyd hielt Verhandlungen mit den DDR-Behörden auf Basis einer de facto-Anerkennung für eine "vernünftige Sache", wobei er noch vielsagend hinzufügte: "Ich hätte nicht viel dagegen, wenn am Ende dieser Verhandlungen die Anerkennung der DDR-Regierung stünde." Sollten möglicherweise die Verbindungswege nach Berlin unterbrochen und eine Luftbrücke eingerichtet werden, dann sollte das die Bundesrepublik finanzieren, denn

"es gibt jetzt ein unabhängiges und reiches Westdeutschland. Die Hauptverantwortung für die Versorgung der Westberliner Bevölkerung liegt bei den Deutschen selbst. Sie sind es, die gegen eine Anerkennung der DDR sind. Wenn sie das mit dieser kostspieligen Operation verhindern wollen, warum sollen sie dann nicht auch dafür bezahlen?"

Lloyd war sich im klaren darüber, daß die Alternative c) eine "delikate" Angelegenheit war, die man den Westdeutschen "schonend" beibringen müsse – "genauso wie den USA und Frankreich". Eine Anerkennung der DDR würde so oder so kommen. Die Amerikaner könne man leicht davon überzeugen, daß man nicht gemeint habe, was man geschrieben hatte; es würde aber sehr viel komplizierter, wenn Adenauer erst einmal den Verdacht habe, "daß wir dabei sind, ihn zu verraten".

Durch eine ungeschickte Regie wurde das Dokument in Bonn bekannt. Bei einer Routinebesprechung Außenminister Brentanos mit den drei westlichen Botschaftern übergab der britische Botschafter eine Kopie; der Eindruck war verheerend. Brentano las das Dokument sorgfältig durch; seine Gesichtszüge veränderten sich während der Lektüre, er war "sichtlich angewidert" und informierte sofort Adenauer, der noch am selben Tag Briefe an US-Außenminister Dulles, Premierminister Macmillan und Frankreichs Regierungschef de Gaulle schrieb, worin er die Einheit und Stärke der freien Welt beschwor. Zum Glück sah man das in Paris und vor allen Dingen in Washington auch so. Die Briten wurden dort als defätistisch eingestuft, ihre Überlegungen abgelehnt.

Außenminister Dulles und Präsident Eisenhower waren nicht bereit, in irgendeiner Weise der sowjetischen Erpressung nachzugeben. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Militärs. Für die Stabschefs wäre ein Verlust Berlins ein "politisches und militärisches Desaster" gewesen. Sie wollten in jedem Fall die Zufahrt nach Berlin freikämpfen. Ihrer Meinung nach müßte man entschlossen und bereit sein, "falls alles andere scheitert, einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen" und die entsprechenden Vorbereitungen treffen.

NATO-Oberbefehlshaber General Lauris Norstad war von Anfang an entschlossen, im Ernstfall die Zufahrt von und nach Berlin freizukämpfen. In einem Satz faßte er zusammen, worum es ihm und den amerikanischen Stabschefs ging: "Wenn wir nicht wollen, daß wir uns jetzt auf einen erniedrigenden Weg begeben, auf dem wir der DDR Schritt für Schritt nachgeben müssen, dann müssen wir jetzt klarmachen, was Sache ist, und die Russen müssen erkennen, daß wir notfalls Gewalt anwenden werden, um unsere Position zu halten."

Einen Verbündeten fand Adenauer damals von Anfang an in Charles de Gaulle. Daraus entstand dann die vielzitierte "Freundschaft zweier alter Männer" – mit dem deutsch-französischen Vertrag vom Januar 1963 als Höhepunkt. Für den General gab es überhaupt nichts zu verhandeln, da man Chruschtschow nichts anbieten könne, was diesen zufriedenstellen würde. Für ihn gab es zunächst nur die Möglichkeit, "in den Schützengräben hockenzubleiben" und sich nicht zu rühren – für den britischen Botschafter in Paris eine "ziemlich fatalistische" Haltung. Jedenfalls war auch de Gaulle entschlossen, notfalls mit Waffengewalt den Weg nach Berlin offenzuhalten, wobei er allerdings auch zugab, daß diese harte Haltung abhängig war von der "Stärke und Führung" der USA, worauf die Amerikaner ihn noch öfters intern hinwiesen.

Die Briten blieben unsichere Kantonisten. Sie wollten nur die Taktik ändern: Man müsse "am Anfang genauso entschlossen reagieren, wie unsere Verbündeten das von uns erwarten, und darauf hoffen, sie langfristig davon zu überzeugen, daß die de facto-Anerkennung der DDR der bessere Weg ist und sie ihre Haltung ändern".

Inzwischen hatte die sowjetische Regierung den drei Westmächten am 27. November 1958 eine gleichlautende Note überreicht. Darin wurde die Umwandlung West-Berlins in eine "selbständige politische Einheit" – gefordert, und das innerhalb der nächsten sechs Monate. Würde bis dahin keine Lösung erreicht sein, würde die Sowjetunion einseitig handeln und alle Kompetenzen der DDR übertragen.

Als am 27. Mai das sowjetische Ultimatum ablief, kam es allerdings nicht zum Showdown. In Genf lief die Außenministerkonferenz; zwar erfolglos, aber immerhin erreichte Chruschtschow eine Einladung in die USA. Man einigte sich schließlich auf eine Gipfelkonferenz im Mai 1960 in Paris, die Chruschtschow dann scheitern ließ. Äußerer Anlaß war der Abschuß eines amerikanischen U2-Spionageflugzeuges wenige Tage vor Beginn der Konferenz. Der entscheidende Grund aber war offensichtlich die Erkenntnis der Sowjets, daß sie in der Berlinfrage angesichts der entschlossenen Haltung vor allen Dingen der USA, aber auch Frankreichs, nicht das erreichen würden, was sie sich möglicherweise erhofft hatten. Chruschtschow setzte jetzt auf Eisenhowers Nachfolger, der im November gewählt wurde.

Mit John F. Kennedy wurde – fast – alles anders. Ihm ging es nicht mehr um Deutschland oder Berlin insgesamt, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Er war schon bald ganz auf der Linie der Briten, suchte Kompromisse und war bereit, bisherige Grundsatzpositionen aufzugeben, was nur auf Kosten der Westdeutschen gehen konnte, langfristig aber auch westliche Positionen insgesamt gefährden würde. Die neue Position wurde auch in öffentlichen Kommuniqués erkennbar. Interessant und vielsagend war etwa die Formulierung im Schlußkommuniqué des Adenauer-Besuches in Washington im April 1961. Demnach war das Versprechen erneuert worden, "die Freiheit der Bevölkerung von West-Berlin zu erhalten, bis Deutschland in Frieden und Freiheit wieder vereinigt" sei. Von deutscher Seite war erstaunlicherweise kein Protest gekommen. Der neue amerikanische Außenminister Dean Rusk meinte im April 1961 gegenüber seinem britischen Kollegen Lord Home, er habe "bis heute nicht verstanden, warum man sich über einen separaten Friedensvertrag [mit der DDR] so aufregt".

Die neue US-Administration hat damals ungeheure Mengen Akten produziert, in denen alle möglichen Szenarien durchgespielt wurden. Am Ende reduziert sich fast alles auf die vertrauliche Aussage von Rusk vom 15. August 1961, wonach eine Lösung der Berlinkrise durch den Mauerbau "eher leichter" geworden sei. Das hatte Botschafter Thompson schon viel früher angedeutet. Er schrieb am 16. März 1961 u.a.: "Falls wir davon ausgehen, daß die Sowjets die Berlinkrise nicht weiter verschärfen, dann müssen wir zumindest damit rechnen, daß die Ostdeutschen die Sektorengrenze abriegeln, um den für sie unerträglichen Flüchtlingsstrom durch Berlin zu stoppen."

Am 13. August geschah genau das, was die CIA bereits im November 1957 für möglich gehalten hatte, Thompson vorhersagte und am 22. Juli im State Department noch einmal erwähnt wurde: Die Sektorengrenze wurde abgeriegelt. Wen verwunderte es da, daß niemand im Westen besonders aufgeregt, offensichtlich nicht einmal überrascht war (mit Ausnahme der Westdeutschen)?

Für Kennedy wurde das Treffen mit Chruschtschow in Wien am 3. und 4. Juni in vielfacher Hinsicht zu einem Schlüsselerlebnis. Chruschtschow gab sich brutal. Im Urteil seiner Berater wurden Kennedys Hoffnungen "zerstört", er war "sprachlos", und "verunsichert". Er habe nur "herumgetanzt", wie der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Nitze meinte. Kennedy verfluchte den Sowjetführer: "Er hat mich wie einen kleinen Jungen behandelt." Macmillan hatte den Eindruck, daß Kennedy "beeindruckt und geschockt" war. "Es war ungefähr so, als wenn jemand Napoleon auf der Höhe seiner Macht zum ersten Mal träfe." Die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Stärke wollte Kennedy woanders unter Beweis stellen: in Südvietnam. Das sollte es dann ja auch werden.

Die Briten hatten nach wie vor weiche Knie – und wollten verhandeln. Macmillan überschätzte sich dabei maßlos und sah sich immer noch bzw. nach Kennedys Desaster in Wien wieder als führenden Staatsmann des Westens. Vom amerikanischen Präsidenten erwartete er wenig, vor allem nicht die Initiative zu Verhandlungen, um die Krise zu entschärfen. Von daher sah er seine Stunde erst noch kommen. Am 24. Juni schrieb er an seinen Außenminister, der zu Gesprächen in Washington war:

"Es kann gut sein, daß etwa im September, wenn die Vorstellung vom starken Mann im Weißen Haus endgültig geplatzt ist und die Welt auf den Krieg zusteuert, Sie und ich die Initiative übernehmen können ... Aber wir müssen warten und den richtigen Moment abpassen."

Und seinem Tagebuch vertraute er an:

"Ich habe das bestimmte Gefühl, daß Präsident Kennedy keine wirklichen Führungsqualitäten besitzt. Die amerikanische Presse und Öffentlichkeit sehen das allmählich auch so. In ein paar Wochen werden sie sich an uns wenden. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Andernfalls kann Berlin zu einem Desaster führen – zu einer furchtbaren diplomatischen Niederlage oder (aus reiner Inkompetenz) zum Atomkrieg."

Ähnlich frustriert war auch Dean Acheson, ehemals Außenminister unter Präsident Truman. Kennedy hatte ihn als eine Art Sonderberater "reaktiviert". Der elder statesman galt nach wie vor als hardliner des Kalten Krieges und wurde auch jetzt seinem Ruf gerecht. Am 28. Juni legte er einen Berlinbericht vor, der an Klarheit und Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrigließ. Acheson, für den Chruschtschow ein "falscher Hund und ein Kriegstreiber" war, ging von der Prämisse aus, daß es nicht nur um Berlin ging, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres: um die entscheidende Machtprobe zwischen den USA und der Sowjetunion, von deren Ausgang das weltweite Vertrauen in die USA als Weltmacht abhing. Auf 35 Seiten listete er auf, was militärisch, wirtschaftlich und politisch zu tun sei, und zwar Vorbereitung der See-, Luft- und Landstreitkräfte auf einen umfassenden Einsatz in Europa, Verstärkung der Marine, Vorbereitung auf einen Atomkrieg. Das Strategische Bomberkommando sollte in Alarmbereitschaft gehalten und gleichzeitig zivile Maßnahmen eingeleitet werden, "möglicherweise auch Atomschutzbunker gebaut werden". Erst wenn die vom Westen durchgeführten Maßnahmen Chruschtschow von der Entschlossenheit des Westens überzeugt hätten, seien Verhandlungen sinnvoll; sie könnten dazu dienen, Chruschtschow den Rückzug zu erleichtern. Auf Basis dieses Memorandums wurde dann jener Kompromiß ausgearbeitet, den Kennedy in seiner Rede am 25. Juli verkündete. Da war auch die Rede von den drei "essentials" für West-Berlin: Recht auf Präsenz der Westmächte, Recht auf Zugang, Sicherung der Freiheit der Bewohner.

In der Zwischenzeit war Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Washington. Gegenüber Verteidigungsminister McNamara gab er sich entschlossen:

"Wir müssen bereit sein zu pokern. Wenn wir das Risiko nicht auf uns nehmen und nicht pokern wollen, dann haben wir das Spiel schon im voraus verloren. Wir müssen unseren Völkern auch klarmachen, wie ernst die Situation ist."

Für den Fall, daß die militärischen Vorbereitungsmaßnahmen in allen Ländern durchgeführt würden, gab sich Strauß zuversichtlich:

"Wenn die USA vier zusätzliche Divisionen zur Verfügung stellen, Großbritannien mobilisiert und Frankreich zusätzliche Divisionen heranführt, dann können wir eine größere militärische Aktion durchführen, aber wir müssen den Sowjets sofort klarmachen, wo es lang geht."

Falls die militärischen Vorbereitungsmaßnahmen zu keiner politischen Lösung führen würden, müsse man bereit sein, den Zugang nach West-Berlin freizukämpfen. Das war allerdings schon die "letzte Möglichkeit" vor dem Atomkrieg. Jedenfalls wurde von Strauß verlangt, für einen Atombombenabwurf einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR zu nennen.

Zurück in Bonn berichtete Strauß. Adenauer war "sehr besorgt, sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend".

Im Sommer 1961 stellte sich immer drängender die Frage, was bei einem "zweiten 17. Juni" zu tun sei. Würde der Westen nur zuschauen und nichts tun, "wird das das Ende unseres Prestiges und Einflusses in Deutschland sein, selbst wenn sich die Bundesrepublik und die westdeutsche Bevölkerung unserer Haltung anschließen werden", wie der amerikanische Botschafter in Bonn, Walter C. Dowling, meinte. Er wollte vom State Department wissen, was zu tun sei. Am 22. Juli lag die Antwort in Bonn vor. Sie war nicht besonders hilfreich und zeigt eigentlich nur, daß man auf diesen Ernstfall nicht vorbereitet war und nicht wußte, was man tun sollte. Aber – und das ist wohl nicht ganz unwichtig – sie zeigt auch, daß man im State Department von den späteren Absperrmaßnahmen nicht vollständig überrascht wurde. Sie werden nämlich hier als Möglichkeit ausdrücklich erwähnt. Zwei Varianten wurden durchgespielt, als erste – "und eher wahrscheinliche" – wurde genannt, daß die DDR versuchen werde, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, entweder durch verschärfte Reisekontrollen zwischen der DDR und Ostberlin "oder durch Maßnahmen zur massiven Einschränkung des Reiseverkehrs zwischen Ost- und Westberlin".

Am 30. Juli meinte Senator William Fulbright, immerhin Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats: "Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenze schließen, denn ich glaube, daß sie ein Recht haben, sie zu schließen." Sie taten es am 13. August.

Hat Kennedy etwas vom Mauerbau gewußt? Eine alte Frage, die immer noch nicht klar beantwortet werden kann – und dies trotz einer ungeheuren Fülle von inzwischen freigegebenen Akten. In keinem der offiziellen westlichen Dokumente, die ich gesehen habe, kommt das Wort "Mauer" vor – wohl aber Absperrung der Sektorengrenze. Entweder ist die Freigabe der Akten besonders geschickt gehandhabt worden, oder es sind darüber tatsächlich keine Überlegungen angestellt worden. Letzteres könnte zutreffen, denn der Mauerbau beeinträchtigte ja keine westlichen Interessen.

Ein Blick in die Akten zeigt auch, wie wenig realistisch deutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren. Da wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen – auch wenn Acheson meinte, Truman hätte es gemacht. Washington wollte jetzt mit den Sowjets verhandeln! Der Kontakt sollte von Botschafter George F. Kennan in Belgrad geknüpft werden. Bereits am 14. August erteilte Rusk Kennan ("Personal and eyes only for the Ambassador") in einem top secret-Telegramm die entsprechenden Instruktionen. Den Sowjets sollte die ernste Absicht der amerikanischen Regierung klargemacht werden, daß man eine "friedliche Lösung" der Berlinkrise wolle, die die Interessen aller Beteiligten wahre. Vor allen Dingen sollte Kennan darauf achten, daß die Alliierten, "insbesondere die Deutschen", von diesen Gesprächen nichts erfahren würden.

Auch die Briten wurden vom Mauerbau nicht überrascht. Botschafter Christopher Steel wunderte sich eigentlich nur darüber, daß die DDR nicht schon viel früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte, wie er am 14. August nach London berichtete. Dabei wies er noch einmal darauf hin, daß er ja seine Kollegen eine Woche zuvor in Paris gewarnt hatte, daß mit dieser oder einer ähnlichen Absperrmaßnahme zu rechnen sei. Der britische Botschafter in Moskau, Frank Roberts, betonte gegenüber dem Foreign Office, man dürfe die Tatsache nicht übersehen, "daß die Russen bei ihren Maßnahmen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, vorsichtig gewesen sind; sie haben diese Maßnahmen auf ihrer Seite des Eisernen Vorhanges durchgeführt und bis jetzt nichts getan, was die Freiheit West-Berlins und die Rechte der Alliierten dort beeinträchtigt".

Genauso war es! Das änderte nichts daran, daß es in West-Berlin und in der Bundesrepublik angesichts der Untätigkeit des Westens zu einer Vertrauenskrise kam. Die Warnungen der Amerikaner vor Ort in Berlin und Bonn führten dann zu einer graduellen Änderung der amerikanischen Politik – wenn auch nur im Atmosphärischen. Dazu gehörte die Entscheidung Kennedys, die US-Garnison in Berlin um eine Kampftruppe von 1500–1800 Mann zu verstärken – dies im übrigen gegen den Widerstand von Verteidigungsminister McNamara –, sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch und den "Helden" der Luftbrücke von 1948/49, General Lucius D. Clay, als seinen persönlichen Vertreter nach Berlin zu schicken.

Für Macmillan ging es in erster Linie darum, die Situation nicht zu verschärfen, zumal Steel nach einer Rundreise durch Ost- und West-Berlin berichtet hatte, daß es außer an den Absperrungen an den Sektorengrenzen "überall erstaunlich normal aussieht". Macmillan  hatte auch seinen Urlaub ungerührt fortgesetzt. Seine wahren Gefühle wurden deutlich, als er beim Golfspielen in Gleneagles am 18. Loch die Beherrschung verlor und meinte, die ganze Krise sei von der Presse hochgespielt worden. Die amerikanischen Aktivitäten betrachtete er mit größter Skepsis – vor allem die Entsendung der Kampftruppe. Für ihn war das "militärischer Nonsens". Er lehnte auch die Bitte Kennedys nach Verlegung britischer Soldaten in Stärke eines Bataillons von Großbritannien nach Berlin ab und begründete dies mit dem fadenscheinigen Argument, daß die Schlagkraft der britischen Armee dadurch geschwächt würde. Und er gab gleichzeitig den Rat, der Westen solle vorsichtig reagieren, denn "wir wollen doch nicht die Schuld von den Russen und Ostdeutschen weg auf uns verlagern mit der Begründung, daß wir uns bei der Lösung des Problems vollkommen negativ verhalten". Das war die selbsternannte Führungsgestalt des Westens!

Man wollte sich "positiv" verhalten. Auf Kosten Bonns! Die Westdeutschen, so Dean Rusk noch vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen, "werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben"; die Amerikaner würden die Deutschen härter anfassen, als die Briten bislang geglaubt hätten. "Im Interesse des Ost-West-Friedens" sollte die Bundesregierung im November Angebote machen; es ging "um die Oder-Neiße-Linie als Grenze, um die Anerkennung Pankows, um West-Berlin als freie Stadt." Bei Adenauer kamen Starrsinn und Zähigkeit – und die Unterstützung de Gaulles – zusammen, um das, was die Anglo-Amerikaner wollten, zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Das führte dort zu erheblicher Frustration. George F. Kennan hielt es für keine gute Sache, von Verbündeten abhängig zu sein, deren Erlaubnis man einholen müsse, um über Dinge zu sprechen, die für den Weltfrieden von größter Bedeutung seien. So habe man Adenauer zugestanden, mit den Sowjets nichts zu diskutieren, was irgendwie von Interesse für sie sein könne; mit anderen Worten: "Wir haben die Franzosen und Deutschen dazu überredet, daß sie uns erlauben, schwimmen zu gehen und sogar unsere Kleider auszuziehen, aber wir haben Mutter Adenauer die Versicherung gegeben, daß wir nicht ins Wasser gehen." Das war Sarkasmus pur.

Wie irritiert und frustriert vor allen Dingen auch Macmillan war, wurde bei seinem Treffen mit Kennedy auf den Bermudas am 21. und 22. Dezember 1961 deutlich. Für Macmillan war alles "sehr verwirrend". Seiner Meinung nach ging es um folgendes: "Wollen wir eine Vereinbarung mit den Russen, oder wollen wir keine?" Großbritannien werde jedenfalls auf gar keinen Fall in einen Krieg gehen, bevor nicht Verhandlungen geführt worden seien (schon vorher hatte er angeordnet, für den Eventualfall britische Kinder nach Kanada zu evakuieren, um die britische Rasse zu retten). Was seien die Fakten? Ostdeutschland existiere: "Es ist Unsinn, wenn die Westdeutschen so tun, als ob es nicht existiere, aber gleichzeitig Handel mit den Ostdeutschen in einer Größenordnung von 300 Millionen Pfund im Jahr treiben." Die Geschichte mit der Nicht-Anerkennung der Existenz Ostdeutschlands sei "reine Fiktion". Es gehe darum, Ostdeutschland anzuerkennen,

"nicht zuviel und nicht zuwenig. Die Franzosen wollen keine Wiedervereinigung, die Russen wollen sie nicht, und ich bin nicht sicher, ob die Deutschen sie wirklich wollen. Wir müssen nur am Anfang der Gespräche sagen, daß Deutschland eines Tages wiedervereinigt wird, und die Russen werden das so lange akzeptieren, als sie sicher sein können, daß nichts geschehen wird."

Bei der Zufahrt nach Berlin stellte Kennedy eine besonders vielsagende Frage. Es ging um eine mögliche Internationalisierung der Autobahn auf DDR-Gebiet. Könnte man nicht den Sowjets anbieten, so der amerikanische Präsident, in der BRD genauso viele Kilometer Autobahn wie in der DDR zu internationalisieren? Was hätte Adenauer wohl dazu gesagt?

Nur einer wollte damals die Mauer niederreißen: General Lucius D. Clay. Aus Washington kam allerdings ein klares Nein, und Macmillan machte deutlich, was er von Clay hielt. Auf einem Telegramm von Steel notierte er, Clay sei immer schon ein "Scheißkerl" gewesen, jetzt sei er "ein verbitterter Scheißkerl" und eine Gefahr für die Allgemeinheit. ("He seems to me a public danger. He was always an ass; now he is an embittered ass.")

Kennedy äußerte sich intern in nicht zu überbietender Arroganz über deutsche Politiker; sie sollten ihre "Schnauzen ruhig in den Schweinetrog Berlin stecken", wenn sie wollten (und möglicherweise selbst mit den Sowjets verhandeln). Die Briten waren noch schlimmer. In einem Schreiben vom Februar 1962 kann man schwarz auf weiß nachlesen, daß Macmillan und Home keine Wiedervereinigung wollten.

Um die sich abzeichnende Entwicklung zu stoppen, provozierte Adenauer im Frühjahr 1962 die schwerste Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, die es vor und nach dem Mauerbau gegeben hat. Über geheime amerikanische Überlegungen konnte man plötzlich etwas in deutschen Zeitungen lesen ... Im Herbst 1962 – vor und dann nach der Kubakrise – wurden in London und Washington weitere Überlegungen für eine Lösung der Berlinfrage angestellt. Der britische Staatsminister im Foreign Office, Godber, entwickelte sogar den Plan, West-Berlin aufzugeben und die Bevölkerung einfach auszutauschen. Ähnlich auch Paul Nitze. Er legte Kennedy Anfang November ein Papier vor, in dem er Gedanken entwickelte, die, wie er es formulierte "in der Vergangenheit undenkbar" gewesen seien. "Berlin im Lichte von Kuba", wie er sein Memorandum überschrieb, sah Lösungen vor ("thinking the unthinkable"), die so drastisch waren, daß sie nicht einmal ansatzweise den Deutschen zur Kenntnis gebracht werden sollten. Auch er schlug die Aufgabe West-Berlins vor; dafür sollte ein erheblicher Teil des DDR-Territoriums in den Besitz der Bundesrepublik übergehen – als Gegenleistung für die Aussiedlung der Westberliner.

Erst allmählich wurde erkennbar, daß der Mauerbau Höhepunkt und Ende der eigentlichen Berlinkrise war. Kein Geringerer als Botschafter Christopher Steel hatte das schon in einer geheimen Analyse im Januar 1962 folgendermaßen beschrieben:

"Ich bin mir ziemlich sicher, daß die Russen von den Auswirkungen der Mauer selbst überrascht und gleichzeitig zufrieden sind. [...] Im Rahmen ihres großen Ziels – Stabilisierung der DDR – haben sie etliche Ziele erreicht: Der Flüchtlingsstrom wurde gestoppt, das Schaufester [West-Berlin] wurde geschlossen.

Auf der anderen Seite ist Ulbricht wenig erfolgreich ("flop") und noch dazu ein Stalinist. Die Russen werden sich selbst die Frage stellen, [...] ob er sein Land mit einem Friedensvertrag besser regieren wird. Wenn er ihn bekommt, muß er direkten Kontakt, möglicherweise sogar Beziehungen mit dem Westen aufnehmen. Die Russen werden mit Sicherheit nicht begeistert sein bei dem Gedanken, daß dieser ideologische Spinner ("ideological crackpot") es dann in der Hand hat, auf der Autobahn einen Krieg zu beginnen."

Ulbricht sollte denn auch seinen separaten Friedensvertrag nicht bekommen.

Steel erwartete für die Zukunft zwar jede Menge Verwaltungsschikanen, Behinderungen und Spannungen in und um Berlin, hoffte aber gleichzeitig, daß man die Sache so lange unter Kontrolle halten konnte, bis beide Seiten bereit waren, miteinander ins Geschäft zu kommen ("to do business").

Das war unterm Strich keine schlechte Voraussage. Sie lief letztlich auf jene sieben- bis zehnjährige Pause hinaus, die der amerikanische Botschafter in Moskau schon Anfang 1961 empfohlen hatte. Beide – Chruschtschow und Kennedy – waren für "ihre" Deutschen so weit wie möglich gegangen. Wären sie weiter gegangen, hätte das möglicherweise die Zerstörung der eigenen Städte bedeutet – und das wegen jener Stadt, die beide Völker 16 Jahre zuvor gemeinsam im Kampf gegen die Deutschen zerstört hatten. Das war absurd. Kennedy empfand das jedenfalls so und äußerte sich dazu wenige Stunden nach seinem Treffen mit Chruschtschow in Wien im Juni 1961 folgendermaßen:

"Es wirkt doch einfach idiotisch, daß wir wegen eines Vertrages, der Berlin als zukünftige Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschland vorsieht, mit der Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert sind – wo wir doch alle wissen, daß Deutschland wahrscheinlich nie mehr wiedervereinigt wird!"

 

Der Autor ist ordentlicher Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Er hat soeben ein Taschenbuch zum Thema vorgelegt, das im Olzog Verlag in München erschienen ist: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963, 411 Seiten, DM 36,--.

Einzelheiten unter www.ifz-innsbruck.at